Menü
Die Holzgerlingerin hat viel zu erzählen

Weberin Ruth Grausam: Zum Anfang gab es 56 Pfennige in der Stunde

Die 87-jährige Weberin Ruth Grausam erinnert sich im Gespräch mit Tabea Dölker an ihre Zeit in der Weberei Binder.

Von Annette Nüßle
Tabea Dölker (links) und Ruth Grausam mit einem Band aus der Weberei Binder. Bild: Nüßle

Tabea Dölker (links) und Ruth Grausam mit einem Band aus der Weberei Binder. Bild: Nüßle

Bild: ANNETTE NUESSLE

Holzgerlingen. Die Arbeit von Ruth Grausam als Weberin bei der Bandweberei Binder in Holzgerlingen stand im Mittelpunkt bei einem Gespräch mit Tabea Dölker anlässlich der Sonderausstellung "Ein Band geht um die Welt" im Heimatmuseum Holzgerlingen. Die Bandweberei Gottlieb Binder besteht seit 225 Jahren. "Sie war der zehnte Eintrag im württembergischen Handelsregister und ist diejenige, die von der ersten Zehn noch besteht", sagt Tabea Dölker vom Verein für Heimatgeschichte zum Einstieg und umreißt, dass das Familienunternehmen in der achten Generation immer ein Spiegelbild der Arbeitswelt, der Produkte und der Menschen ist.

Eine dieser Menschen ist die 87-jährige Ruth Grausam, stellvertretend für die unzähligen kompetenten Mitarbeiterinnen erinnerte sie sich im voll besetzten Saal im Haus am Ziegelhof, wie alles begann. "Ich war 1951 gerade 14 Jahre, als ich aus der Volksschule kam. Eigentlich wollte ich gerne was Soziales machen, aber dafür war ich zu jung. Nach einem Jahr Schule in Böblingen, sagte ihr Vater: "Du kannst morgen in der Fabrik anfangen, bring eine Schürze mit." Die "Fabrik", das ist das Holzgerlinger Synonym für die Bandweberei Binder. Eine richtige Lehre gab es nicht. "Die war den Handwebern, die in Sindelfingen in die Weberschule vorbehalten", sagt Ruth Grausam.

Als Spulmädle find sie an, musste die Spulen für die Webstühle vorbereiten, aber auch Postpäckle zum Postamt oder zum Bahnhof bringen. "Mit dem Leiterwägele gings zum Bahnhof oder wenn es ganz eilig und wichtig war, mit dem Fahrrad nach Böblingen", erinnert sie sich und erzählt, dass jedes Mädchen damals das Ziel hatte als Weberin im Akkord zu arbeiten. "Dafür gabs mehr Geld", sagt sie, die mit einem Stundenlohn von 56 Pfennig angefangen hatte. Für Miederwaren gehörte die Binderschen Bänder einfach dazu. Auch "Spießhofer und Braun" aus Heubach, besser bekannt als "Triumph" setzte auf die Produkte aus Holzgerlingen. Aber auch Gardinenbänder gehörten zum Sortiment, genauso wie Schrägbänder und viele andere Varianten mehr. "Qualität war immer gefragt, die Knoten in den Webfäden mussten so geknüpft sein, dass nichts später hakte", sagt die Weberin.

Der Lärm in den Hallen ist Ruth Grausam noch gut in Erinnerung. "Wir konnten Lippenlesen und verständigten uns mit Zeichensprache. Aber unterhalten war eh nicht gerne gesehen", sagt sie und lädt jeden ein, sich bei einer der Öffnungssonntage des Museums einmal selbst einen Eindruck von dem Lärm zu machen. Bis zu zwanzig Webstühle standen in einem Raum. Je nach Bandbreite wurden dort bis zu 96 Bänder auf einem Webstuhl gleichzeitig gewebt und je nach Anforderung war man für bis zu sechs der mechanischen Webstühle zuständig. "Einschließlich am Freitag putzen, das gehörte auch dazu. Der Flaum, der beim Weben entstand, der musste weg, sonst sorgte er für Probleme so die Holzgerlingerin. Ruhe in den Sälen herrschte nur beim Kettfäden anknüpfen, wenn die Webstühle neu bestückt wurden. "Das war schön, da haben wir auch mal gemeinsam gesungen", sagt Ruth Grausam und einige der zahlreichen Zuhörer nicken bestätigend.

Nach den Naturmaterialien kam der Perlonfaden und dann der Klettverschluss. Die europaweite Lizenz und die Entwicklung einer industriellen Produktion des Klettverschlusses brachte auch für die Weberinnen Herausforderungen mit. Das eine Band musste, maschinell so aufgeschnitten werden, dass es am aufgebürsteten Gegenstück haftet, erläutert Ruth Grausam und Tabea Dölker betont die Pionierarbeit, die in den firmeneigenen Werkstätten für die Maschinenentwicklung geleistet wurde. Heute ist die Firma Binder Spezialist für Klettbänder für eine große Bandbreite an Anforderungen. Dazu gehören allein 25 Milliarden Windelverschlüsse die Binder jährlich produziert und damit den halben Weltmarkt beliefert. "Es hieß damals ‚Binder-Bänder in alle Länder'", sagt Ruth Grausam und betont am Ende des kurzweiligen Abends "Die Fabrik gehört zu Holzgerlingen und das bleibt hoffentlich auch so."

Die Sonderausstellung im Heimatmuseum Holzgerlingen ist jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Weitere Informationen unter www.heimatmuseum-holzgerlingen.de