Sindelfingen: Zwei Kirchenfrauen aus Spremberg in der Martinskirche
Sindelfingen. Wie sich eine Kirchengemeinde in der ostdeutschen Diaspora, im rechtsnationalen Umfeld behauptet, die Stadtgesellschaft belebt und Menschen zusammenbringt, davon erzählten Stephanie Nerlich und Bianca Broda aus dem Lausitzer Braunkohlenpott. Pfarrer Jens Junginger sieht darin eine Blaupause für die Zukunft, auch in Sindelfingen.
Spremberg, rund 22 000 Einwohner, in der Mitte zwischen Berlin und Dresden und umringt von zu Seen aufgefüllten Kohlegruben, hat drei Kirchen mit 2000 Gemeindegliedern. Seit dem 1. Januar 2024 heißt der zweisprachige Ort mit deutschen und sorbischen Straßenschildern, der aus vier Gemeinden besteht, auch „Perle der Lausitz“.
Heftiger Strukturwandel
Die Perle steht in einem heftigen Strukturwandel vom Kohletagebau zu neuen Industriezweigen. Viele Bergleute trauern ihren stabilen Jobs nach und hadern mit den neuen Verhältnissen. Bianca Broda, eine gebürtige Sprembergerin, ging nach der Wende weg „wie alle Jugendlichen, weil es bei uns keine Arbeit gab.“ Sie lebte 20 Jahre in München und kam mit Mann und vier Kindern zurück, weil es viele Programme für Rückkehrerfamilien gab. Sie arbeitet als Sozialwirtin in der Eingliederungshilfe im Spreewald, vermisste jedoch sehr die erlebte Vielfalt. Stephanie Nerlich wurde in Forst (direkt an der polnischen Grenze) geboren, arbeitet jetzt als Einzelhandelskauffrau und Fotografin in Spremberg und engagiert sich als Kirchengemeinderätin bei diversen Aktionen.
Bianca Broda berichtet von der Alternative, das Langweilige zu ertragen oder selbst etwas zu unternehmen. Mit drei jungen Pfarrpersonen - zwei Frauen und ein Mann – kam dann auch hauptamtlich frischer Wind. „Nun konnten wir uns als Ehrenamtliche endlich dran machen, mit einem bunten Angebot Kirche für die Vielfalt der Menschen in der Stadt zu gestalten.“
Das bedeutet zugleich als Christen „Farbe zu bekennen, für Frieden, Vielfalt, für geflüchtete Menschen, ein unteilbares Miteinander und für junge suchende Menschen in unserer Stadt.“ Es entstanden ein Nähcafé, der Freitags-Treff für Seniorinnen und Familien, offene Markttage und eine AG Spurensuche nach Verfolgten des Nazi-Regimes.
Über 100 Stolpersteine gelegt
Entgegen der Meinung von Bürgermeister und Museumsleitung fanden sie über 100 Namen und es wurden Stolpersteine verlegt. Ein Treff für Flüchtlinge aus der Ukraine entstand. Kinder gründeten selbst eine Schachgruppe und die Frauen taten sich zusammen. Eine vielfältige Anzahl Ehrenamtlicher hilft unkompliziert beim Frühjahrsputz zusammen.
Ein Stadt-Gottesdienstteam gestaltet den Pfingstgottesdienst mit Taufen am Stausee, zu dem auch andere Interessierte radeln und in besonderer Weise auch den Reformationstag.
Die beiden sprühen vor Überzeugung und Freude, sich auch darüber, welche neuen Leute sich anschließen, etwa auch bei ihren gelegentlichen Demos für Vielfalt und ein unteilbares Miteinander.
Die Michaels-Gemeinde war schon 1989 bei der Wende die mutigste. „Schwerter zu Pflugscharen“ lautete damals die Losung. Heute gibt es das „Bündnis unteilbar Spremberg“ und quirlige, bunte Marktplatzfeste mit Infoständen, Beratungsangeboten und Darbietungen. Sie werden von der Polizei geschützt. „Das muss sein, denn die Rechten fotografieren und pöbeln.“
Die Bürgermeisterin und der Bischof von Berlin-Brandenburg-Oberschlesische Lausitz kamen zuletzt zum Grußwort. Bianca Broda, die selbst vier Kinder hat, freut sich, dass sie viele Jugendliche durch sportliche Angebote oder Filme, Lesungen und Bildungsangebote aktivieren können.
„Manchen Kirchenmitgliedern ist das zwar zu politisch, aber beim Gemeindefest helfen alle zusammen.“ Der weltanschauliche Riss geht auch durch Familien. Stephanie Nerlich erzählte, dass ihr eigener Vater und Bruder sie nicht grüßen würden, wenn sie nicht Vater und Bruder wären. Die AfD hat mit ihren Montagsspaziergängen weiterhin eine 30-prozentige Zustimmung. „Weil wir aber mit Handwerkern und Nachbarn auskommen wollen, spricht man möglichst nicht über Vielfalt oder andere gesellschaftliche Themen.“
Die beiden Frauen strahlen eine ermutigende Freude und Zuversicht aus, die ansteckend wirkt. Am Sonntag wurde das Engagement der Spremberger Kirchengemeinde auch von Landesbischof Ernst Wilhelm Gohl in der Stuttgarter Erlöserkirche honoriert. Sie wurden vom synodalen Gesprächskreis Offene Kirche für ihr mutiges und kreatives Wirken mit dem AMOS-Preis ausgezeichnet.