

Sindelfingen. Spätestens seit dem eindrucksvollen Spielfilm „Der Untergang“, der die letzten Kriegswochen im Berliner Führerbunker thematisiert, können wir uns eine Vorstellung davon machen, welches Ausmaß an Realitätsleugnung und Realitätsverlust sich gegen Kriegsende in der NS-Führung breit machte. Ein wenig dieser Realitätsverweigerung ist auch aus dem Protokoll der letzten Gemeinderatssitzung während des Krieges herauszulesen, die in Sindelfingen am 29. März 1945 stattfand.
Zu diesem Zeitpunkt hatten französische und amerikanische Truppen bereits begonnen, das Gebiet des heutigen Baden-Württembergs von Westen und Norden her zu erobern und die Front war stellenweise kaum mehr 100 Kilometer von Sindelfingen entfernt. In Sindelfingen selbst waren Teile der Innenstadt – vor allem der Marktplatz (damals Adolf-Hitler-Platz), die Untere Vorstadt und die Ziegelstraße – von den Luftangriffen vom September 1944 schwer zerstört und ein Wiederaufbau wegen fehlendem Baumaterial kaum möglich.
Das Daimler-Benz-Werk war zu 80 Prozent zerstört und hatte seine Produktion weitestgehend eingestellt. Viele der zuvor im Werk eingesetzten Zwangsarbeiter waren Auslagerungsbetrieben in der Umgebung zugeordnet und sollten in stillgelegten Fabriken, Steinbrüchen und Eisenbahntunnels die Fabrikation weiterführen. In Sindelfingen wurde von russischen Zwangsarbeitern berichtet, die sich durch den Hausierhandel mit selbst hergestellten Reisigbesen etwas zu verdienen versuchten. Dies deutet darauf hin, dass die bis dahin strenge Kontrolle über die sogenannten „Ostarbeiter“ gegen Kriegsende nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte.
Angesichts dieser Situation mutet es schon etwas gespenstisch an, dass am 29. März ein kleines Häufchen von sechs Männern über die Vergabe der Handwerkerleistungen für die Jahre 1945/46 und über die Zuwendungen für Alters- und Ehejubilare diskutierte. Auch der Haushaltsplan für die Jahre 1944/45 wurde besprochen und die solide Finanzsituation der Stadt festgehalten.
„Für künftige Jahre sei jedoch mit einer Verringerung der Steuerüberweisung Hand in Hand mit einer Steigerung des Kriegsbeitrags zu rechnen“, heißt es im Protokoll. Niemand traute sich offensichtlich, die längst absehbare totale Niederlage zu thematisieren, vielleicht auch nur im Protokoll festzuhalten.
Entlarvend ist eine kurze Bemerkung zur Vernebelungsanlage, die zu Beginn des Krieges zum Schutz des Daimler-Benz-Werks installiert worden war: „Der Bürgermeister sagt auf Anregung zu, im Interesse des Schutzes der landwirtschaftlichen Erzeugung Schritte zu unternehmen, dass künftig die Vernebelungsanlage gegen Fliegerangriffe nicht mehr in Betrieb gesetzt werde, nachdem die Vernebelung sowieso ihren Zweck nicht mehr erfülle.“
Gemeint ist hier wohl der technische Fortschritt in der Radartechnologie, der die Vernebelung sinnlos machte, aber auch die Zerstörungen im Werk, die eine Produktion ohnehin unmöglich machten.
Dass trotzdem weiterhin mit vereinzelten Luftangriffen zu rechnen war, macht ein kurzer Bericht des Bürgermeisters über Sprengbombenabwürfe in der Bachstraße deutlich, bei denen zwei Menschen ums Leben gekommen waren.
Es ist einer der wenigen Protokolleinträge, bei dem man den Eindruck gewinnt, dass der Realität ins Auge gesehen wird. Ansonsten hatte die NS-Propaganda mit ihren Durchhalteparolen und Erzählungen von Wunderwaffen und der NS-Terror mit drakonischen Strafandrohungen für jede Äußerung, der Krieg könne verloren sein, auch Sindelfingen im März 1945 noch fest im Griff. Was zu Hause im vertrauten Umfeld gesprochen wurde, ist natürlich nirgendwo schriftlich festgehalten.
Autor Horst Zecha leitet das Archiv der Stadt Sindelfingen.
Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt und präsentiert dies in einer Vitrine. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der unter anderem die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt.
Das Sindelfinger Stadtmuseum im Alten Rathaus in der Langen Straße 13 hat folgende Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag 15 - 18 Uhr, Sonn- und Feiertag 13 - 18 Uhr.