Der Schütze aus der Mercedes-Halle legt sein Geständnis ab
Sindelfingen/Stuttgart. Murat D. spricht wenig, leise und auf Türkisch. Der Dolmetscher übersetzt. Wenn der Angeklagte redet, dann geht es um seinen Lebensweg. Dieser soll in den kommenden Wochen noch entscheidende Rollen spielen in der Verhandlung vor der 19. Strafkammer des Landgerichts. Die Erklärung zum 11. Mai, als zwei Menschen durch acht Schüsse aus nächster Nähe ihr Leben verloren, übernimmt sein Anwalt.
Murat D., geschieden und Vater von fünf Kindern, gibt zu, die beiden Männer getötet zu haben. Er bereue dies sehr, entschuldigt sich für das Leid, das er über die Angehörigen gebracht hat. „Meine Intention ist, zur Tat zu stehen und Verantwortung zu übernehmen“, heißt es. Doch wie konnte es soweit kommen an jenem Donnerstagmorgen in der Factory 56 am Niederen Wasen in Sindelfingen?
Es liegt eine große Schwere vor dem und im Saal eins des Landgerichts in der Olgastraße. Die Polizei fährt vor und im Gebäude mächtig Personal auf. „Bei den größeren Prozessen ist das üblich“, sagt eine Polizistin. Wie am Flughafen werden Jacken und Taschen durchleuchtet, Gürtel und Uhren abgelegt. Handys sind nur im Flugmodus erlaubt. An die 100 Menschen sitzen als Beobachter im Saal, Angehörige und Nebenkläger weiter vorne. Es gibt nur wenige Zwischenrufe. Auch wenn es ein emotionaler Prozessauftakt ist, reißen sich die Hinterbliebenen zusammen. „Du wirst deine gerechte Strafe erhalten“, bricht es einmal auf Türkisch heraus.
Vorwurf der Heimtücke
Die Anklageschrift fasst zusammen: Der 53-Jährige soll zwei Menschen heimtückisch getötet haben. Nach einer verbalen Auseinandersetzung gegen 7.30 Uhr soll er mit einer halb automatischen Waffe aus 60 bis 20 Zentimeter Entfernung achtmal geschossen haben. Beide Opfer erlagen den Schussverletzungen im Oberkörper. Ein Mann starb nach längerer Reanimation noch am Tatort, der zweite wenig später im Krankenhaus.
Nachdem vor dem Prozessauftakt Spekulationen über politische und arbeitsrechtliche Motive kursierten, kommen bereits am ersten Tag beide auf Umwege zusammen. Der Kern der Erklärung von Murat D. besteht in der Furcht, Deutschland wieder verlassen zu müssen, wodurch es ihm unmöglich wäre, in der Nähe der Familie zu sein und diese finanziell zu unterstützen. In Deutschland lebt der Sohn zweier Schwarztee-Bauern seit 2001, nachdem er selbst den Tee-Handel übernommen hatte, dieser nicht mehr rentabel war und auch Versuche als Tavernen-Wirt nicht erträglich waren.
Kein Aufenthaltstitel
Zunächst zog er nach Aalen, die Ehe scheiterte später. In Deutschland ist die Scheidung anerkannt, in der Türkei noch nicht. Mittlerweile lebt Murat D. in einer Einzimmerwohnung in Bad Liebenzell. Hier darf er wegen einer so genannten Fiktionsbescheinigung leben, die ihm auch Zutritt zum Arbeitsmarkt verschafft. Diese habe er an seinem Wohnort Bad Liebenzell nach „großem Bitten“ erhalten. Einen Aufenthaltstitel habe er beantragt, aber nicht bekommen.
Sollte er gehen müssen befürchte er in der Türkei „Repressalien bis hin zur Ermordung“, heißt es in der Erklärung. In der Türkei laufen zwei Verfahren gegen Murat D. Dabei gehe es zum jetzigen Kenntnisstand um Vorwürfe von Beleidigungen in Richtung Präsident Recep Tayyip Erdoğan und mutmaßliche Verbindungen zur regierungskritischen Gülen-Bewegung. Dazu gebe es in der Türkei einen Haftbefehl gegen den 53-Jährigen. Über die verweigerte Verlängerung des Reisepasses wolle man jedoch die Einreise erzwingen.
Das alles sei wichtig für den Hintergrund, nicht aber der Auslöser für die Tat an sich. Am morgen des 11. Mai kommt es zum Streit von Murat D. mit den beiden späteren Opfern Özkan K. (44 Jahre) und Ayhan B. (45). Alle drei sind nicht bei Mercedes, sondern bei Rhenus Automotive angestellt, der 53-Jährige ist in der Probezeit.
Er habe sich sowieso „gemobbt und gedemütigt gefühlt“, führte die Antipathie auch auf eine andere politische Haltung zurück. Zunächst habe es einen „einfachen Streit gegeben, es ging nur um das Aufladen von E-Wagen“, so die Schilderung des Angeklagten. Dieser Streit habe sich aufgeladen bis die Sätze gefallen seien: „Geh jetzt. Morgen brauchst du nicht mehr kommen. Die Kündigung ist vorbereitet.“
„Er drehte durch“
Der Anwalt fasst die nächsten Minuten in der Erklärung so zusammen: Die Situation schien ausweglos, der Arbeitsplatz sei wie ein seidener Faden, an dem sein ganzes Leben hing. Sein Mandant „begann zu zittern, drehte durch, ein Blackout, in Kopf pochte und dröhnte es“. Es sei wie Watte in seinem Kopf gewesen, er habe sich verloren. Er könne sich an keine Details erinnern.
Erst als der Sicherheitsarbeiter den Angeklagten am Kinn packte und schüttelte, sei er zu sich gekommen: „Es war keine politisch motivierte Tat, sondern Ausbruch tiefer Verzweiflung.“ Murat D. wünsche sich, die Zeit zurückzudrehen, und bereue, dass er nicht aus der Situation gegangen ist.
Zur Tatwaffe sagt der Verteidiger von Murat D.: Nachdem sich in sozialen Medien die Gesinnung des Angeklagten als AKP- und Erdoğan-Gegner verbreitet habe, führte das zu Anfeindungen gegenüber meines Mandanten, die in Todesdrohungen gipfelten. Aus Angst habe er ständig die Waffe bei sich getragen.
Fatih Zingal, als Anwalt Vertreter der zwölf Nebenkläger, spricht nach dem Verhandlungsauftakt für die Hinterbliebenen: „Diesen Menschen geht es nicht gut. Das sind hochbelastende Situationen, ein hochemotionaler Prozess. Wir werden noch viele Zeugen hören. Es gibt noch viele Fragezeichen.“ Die beiden Familien der Opfer bezeichnet er als „apolitisch“. Zwei Tage nach der Tat gab es ein großes Trauergebet vor der Ditib-Moschee in Sindelfingen. Der nächste Verhandlungstag mit der Beweisaufnahme ist auf den 21. November angesetzt, der letzte auf den 17. Januar. So berichtete die SZ/BZ am 11. Mai.

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