Sindelfingen: Eine Pferdekutsche und ein kleines Mädchen
Sindelfingen. Nach dem Luftangriff vom September 1944 auf Sindelfingen waren die Menschen hier in banger Erwartung auf die Zukunft. Das Leben drehte sich ums Überleben. Heizmaterial war knapp und die Wasserversorgung unregelmäßig. Nach den Weihnachtsferien wurden die Schulen geschlossen. Der einberufene Volkssturm zwang nun auch Schüler ab 16 Jahren und ältere Männer zum Dienst an der Waffe. Mindestens 14 Familien beklagten im Januar 1945 den Tod ihrer Familienangehörigen an der Front. Ab Januar 1945 wurde das Erscheinen der Tageszeitung eingestellt.
Die Rote Armee rückt vor
Doch wie sah es in anderen Gebieten aus? Im Osten gelang es der Roten Armee bereits 1944 die deutsche Wehrmacht an die Grenzen von 1941 zurückzudrängen. Am 12. Januar startete die Rote Armee eine große Offensive und rückte erfolgreich auf deutsches Territorium vor. Die Bevölkerung war vor dem raschen Vorankommen der Truppen Stalins nicht rechtzeitig gewarnt und geschützt worden. So mussten die Menschen überstürzt fliehen und konnten nur die nötigsten Dinge mitnehmen. Familien wurden auseinandergerissen und bei der Flucht getrennt.
An vielen Orten spielten sich katastrophale Szenen ab. So wurden in Breslau Einwohner vom Gauleiter aus der Stadt gedrängt, um nicht zusätzlich hier versorgt werden zu müssen. Sie sollten hinter der Front bleiben, um die Wehrmacht zu stärken. Ziel war unter anderem, die Straßen für Truppentransporte freizuhalten. So wichen viele Flüchtlingstrecks auf kleinere Straßen aus und befanden sich dort in der Gefahr von sowjetischen Panzern überfahren zu werden. Die Deutschen im Osten waren auf sich gestellt und konnten keine Unterstützung durch die eigene Regierung erwarten. Vielmehr wurden sie der gegnerischen Armee bewusst ausgeliefert.
Vater nach der Geburt gefallen
Einige der Geflüchteten sind später auch nach Sindelfingen gekommen. So kennen wir die Geschichte einer Frau, die als kleines Kind mit ihrer Mutter aus Stargard (Pommern) fliehen musste. Der Vater war kurz nach ihrer Geburt 1942 gefallen und ihre Mutter besuchte mit der Tochter häufig deren Großeltern in Stargard. Dort befand sich ein Außenlager für Männer des KZ Ravensbrück und ein Arbeitslager für russische Zwangsarbeiter.
Die Ernährungssituation war in den Lagern extrem schlecht. Die Männer im Arbeitslager waren an verschiedenen Orten eingesetzt und kamen auf dem Weg zur Arbeit täglich am Haus der Familie vorbei. Aus dem Bericht der Enkelin: „Obwohl der Bevölkerung jeder Kontakt mit den Fremdarbeitern streng verboten war und dieser ein hohes persönliches Risiko für sie bedeutete, versteckte meine Großmutter immer wieder Lebensmittel am Zaun. Am nächsten Tag waren sie weg. Sie litt sehr unter dem Verlust ihres Sohnes und sagte: „Andere Mütter leiden auch unter dem Verlust ihrer Männer und Söhne“.
Dank der Häftlinge
Eines Tages stand diese Pferdekutsche an ihrem Gartenzaun. Vermutlich hatten kunstfertige Häftlinge sie im Lager hergestellt und wollten sich damit für die Lebensmittel bedanken.“
Die Pferdekutsche ist für die Enkelin eine ganz besondere Erinnerung an die Zeit in Stargard. Bei der Flucht mussten die Familien bewusst entscheiden, was mitgenommen werden sollte, zumal nicht klar war, wohin die Flucht gehen würde und wie lange sie dauerte. In dieser Familie gehörte das Spielzeug für die Tochter zu den Dingen, die als notwendig erachtet wurden. Das Stadtmuseum verfügt mit dieser kleinen Pferdekutsche nun über ein besonderes Objekt, das uns auch Auskunft gibt über die Menschlichkeit in Kriegszeiten.
Die Autorin Illja Widmann ist die Leiterin des Sindelfinger Stadtmuseums.
Info
Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt und präsentiert dies in einer Vitrine. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der unter anderem die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt.
Die Monatsvitrine zum Thema ist seit Freitag, 24. Januar, im Stadtmuseum zu sehen sein. Das Sindelfinger Stadtmuseum im Alten Rathaus in der Langen Straße 13 hat folgende Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag 15 - 18 Uhr, Sonn- und Feiertag 13 - 18 Uhr.