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Stadtgeschichte

Sindelfingen vor 80 Jahren: Der „Volkssturm“ wird gegründet

Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt.

Von Yannick Wennde
Böblinger Kreiszeitung vom 6.11.1944: Der Volkssturm wurde aus Propagandazwecken mit der Leipziger Völkerschlacht von 1813 in Verbindung gebracht.

Böblinger Kreiszeitung vom 6.11.1944: Der Volkssturm wurde aus Propagandazwecken mit der Leipziger Völkerschlacht von 1813 in Verbindung gebracht.

Bild: Stadtarchiv Sindelfingen

Sindelfingen. Im Oktober 1944 hatte sich der Zweite Weltkrieg längst zu Ungunsten Deutschlands entwickelt und die Alliierten standen bei Aachen und in Ostpreußen schon an den Reichsgrenzen. Ein Zeichen für die desolate Entwicklung der Kriegsführung war der Führererlass zur Gründung des „Deutschen Volkssturms“ vom 25.09.1944. Allerdings begannen die Beauftragten der NS-Führung erst ab dem 18. Oktober mit der Aufstellung erster „Volkssturm“-Bataillone. Diese zeitliche Verschiebung wurde aus Propagandazwecken gewählt.

Der Erlass vom September 1944 rief alle 16- bis 60-jährigen kampffähigen Männer und Jugendlichen auf, sich dem „Volkssturm“ anzuschließen. Dabei sollte nur ein Teil der Bataillone für den Fronteinsatz rekrutiert werden. Der „Volkssturm“ war überwiegend zur Mobilisierung der Verteidigung der Heimat gedacht.

„Der totale Einsatz zum Krieg!“

Ebenfalls um und in Sindelfingen gründete sich, unter Federführung der lokalen NSDAP-Gruppen, der „Volkssturm“. Ein Artikel der Böblinger NS-Kreiszeitung vom 23.10.1944 berichtet über eine entsprechende Veranstaltung in Böblingen und Sindelfingen einen Tag zuvor. Bei der Veranstaltung charakterisierte der NSDAP-Kreisleiter Siller den „Volkssturm“ mit folgenden Worten: „Auch der Volkssturm, der vom Führer ausgerufen wurde, wird mitentscheidend in den Kampf eingreifen. Der Volkssturm ist nichts anderes wie der totale Einsatz zum Krieg!“

Dieses Einschwören der Bevölkerung auf den „totalen Krieg“ und den „Endsieg“ waren typische Formeln der NS-Propaganda, besonders in der letzten Phase des Krieges. Mit diesem heute befremdlichen Pathos berichtet die Böblinger NS-Kreiszeitung über weitere Gründungen in den folgenden Ausgaben. Am 26. Oktober wird über einen „Aufmarsch aller Altersklassen“ in Maichingen berichtet, der ebenfalls am 22. Oktober stattgefunden hatte. Nach gemeinsamem Singen des nationalsozialistischen Liedes „Siehst du im Osten das Morgenrot“, wurde noch einmal der Führererlass verlesen und mussten die versammelten Männer den „[…] Treuegruß an den Führer […]“ entbieten. So ähnlich erfolgte dann die Aufstellung der weiteren „Volkssturm“-Einheiten in den Orten des Kreis Böblingen.

Menschen zunehmend Kriegsmüde

Aber wie sollte den Jugendlichen und Männern des „Volkssturms“ gelingen, was den Soldaten der Wehrmacht bisher nicht gelang, nämlich den beständigen Vorstoß der Alliierten an allen Fronten aufzuhalten? Die desaströse Lage der deutschen Kriegsbemühungen war im Oktober 1944 auch innerhalb der Bevölkerung bekannt und die Menschen zunehmend kriegsmüde. Dennoch sollten nach dem Willen der NS-Führung rund sechs Millionen Männer im „Volkssturm“ organisiert werden.

Damit die Bataillone Erfolg haben konnten, waren Ausrüstung und Ausbildung unerlässlich. Rüstungsminister Albert Speer verweigerte jedoch dem „Volkssturm“ die materielle Unterstützung, da er alle verbliebenen Ressourcen der Wehrmacht zukommen ließ.

Nach Ende des Krieges, im Juni 1945 ließ der Sindelfinger Bürgermeister eine Liste über die Lagerräume der NSDAP-Gliederungen vor Ort und deren Inhalt anfertigen. Darin kommen unter anderem die Materialien vor, die für den „Volkssturm“ vorgehalten waren. Waffen stehen keine darauf. Zwar finden sich auf dieser Liste 390 Waffenröcke, die flächendeckende Ausstattung der „Volkssturm“-Angehörigen mit Uniformen blieb aber ungenügend. Und so trugen die meisten Jugendlichen und Männer ihre Partei-, Hitler-Jugend- oder SA-Uniformen oder kamen in Alltagskleidung. Zur Kennzeichnung trug der „Volkssturm“ eine Armbinde mit der Aufschrift „Deutscher Volkssturm – Wehrmacht“. Damit standen ihnen nach der Haager Landkriegsordnung nicht einmal Kriegsgefangenenrechte zu.

„Reklamationen zwecklos!“

Über die Ausbildung des „Volkssturms“ gibt der Einberufungsbefehl von Helmut Burger vom 24.11.1944 Aufschluss. Er war damals Mitglied der Hitler-Jugend und wird darin für den Zeitraum vom 03.12. bis 07.12. zur Ausbildung in die Panzerkaserne Böblingen einberufen. Der Wortlaut ist harsch und eindeutig. Aus dem Einberufungsbefehl: „Da das Ausbildungslager im Rahmen des Volkssturms durchgeführt wird sind Reklamationen zwecklos!!!“ Und weiter: „Wer diesem Einberufungsbefehl trotzdem nicht Folge leistet, wird auf Grund des Wehrgesetzes bestraft.“ Das erklärt teilweise, warum so viele Jugendliche und Männer zum „Volkssturm“ kamen, obwohl selbst der Bevölkerung die Aussichtslosigkeit des Unterfangens bewusst sein musste.

Zum Thema Ausrüstung finden sich ebenfalls erhellende Passagen in dem Einberufungsbefehl von Helmut Burger. So listet der Befehl alle mitzubringenden Gegenstände auf. Darin aufgeführt, neben Hygieneartikeln, auch Stiefel und HJ-Bekleidung, denn Uniformen gab es keine. Nach nur vier Tagen Ausbildung waren die „Volkssturm“-Angehörigen „bereit“ für den Einsatz.

Miltärisch nicht relevant

Es überrascht daher nicht, dass der „Volkssturm“ militärisch beinahe keine Relevanz hatte. Historiker bewerten den „Volkssturm“ aber in einem Hinblick als durchaus relevant. Geht es nämlich um die Verbrechen des Nationalsozialismus während des Krieges, kommt dem „Volkssturm“ eine Bedeutung zu. Seine Angehörigen waren teilweise an der Bewachung von Todesmärschen, der Erschießung von Häftlingen, Regimegegnern, Deserteuren und sogenannter Plünderer beteiligt. Der „Volkssturm“ führte damit noch einmal zu einer Verbreiterung der (Mit-) Täterschaft zum Kriegsende hin.

Info

Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt und präsentiert dies in einer Vitrine. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der u.a. die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt. Die Monatsvitrine zum Thema ist im Stadtmuseum zu sehen.