„Überall schossen die Flammen hoch…“: Die Luftangriffe auf Sindelfingen vom September 1944
Sindelfingen. Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der unter anderem die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt. Die Texte sind auch auf der städtischen Website nachzulesen.
Die Monatsvitrine zum Thema wird ab Donnerstag, 12. September, im Stadtmuseum zu sehen sein.
Im Kollektiven Gedächtnis
Wohl kein Ereignis der jüngeren Sindelfinger Geschichte hat sich so ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingegraben wie die Luftangriffe vom September 1944.
Was mit deutschen Bombardements auf Warschau, Rotterdam, London oder Coventry begonnen hatte, schlug bereits seit 1942 mit zunehmender Wucht und Brutalität auf deutsche Städte zurück. Ab 1943 nahm die Intensität der Luftangriffe massiv zu, wobei die englische Luftwaffe nächtliche Flächenbombardements und die amerikanischen Bomber immer präzisere Tagangriffe flogen.
Seit Frühjahr 1944 herrschte eine weitgehend uneingeschränkte Luftherrschaft der Alliierten. Insgesamt ist bis Kriegsende von mehr als einer halben Million Toten durch Luftangriffe auf das Deutsche Reich auszugehen.
Ziel war absehbar
Dass das Daimler-Benz-Werk als Rüstungsbetrieb mit zunehmender Luftüberlegenheit der Alliierten Ziel von Fliegerangriffen werden würde, war abzusehen. Produziert wurden in Sindelfingen unter anderem Flugzeugteile und Heckteile der V2 – Rakete, die von der NS-Propaganda als „Wunderwaffe“ hochstilisiert wurde, obwohl sie letztendlich nur sehr begrenzten militärischen Nutzen besaß.
Die Frage war seit 1943 also nicht mehr ob, sondern wann das Werk angegriffen würde – und damit auch die Stadt in Gefahr geriet, die militärisch und strategisch keine Bedeutung hatte.
Bereits seit 1942 hatten amerikanische Aufklärungsflugzeuge das Werk immer wieder überflogen und vorbereitende Aufnahmen für einen späteren Angriff gemacht. Das Werk wurde dann in eine Liste der zu bombardierenden Industrie- und Rüstungsbetriebe aufgenommen, die von den amerikanischen Bomberverbänden sozusagen chronologisch abgearbeitet wurde.*
Stollensystem unterm Goldberg
Seitens Daimler-Benz versuchte man dieser Situation mit zunehmenden Auslagerungen zu begegnen, wie an anderer Stelle bereits berichtet wurde. Zum Schutz der Belegschaft und der Bevölkerung wurde seit Anfang 1944 sowohl seitens des Werks als auch der Stadt mit dem Bau von Luftschutzstollen begonnen.
Das größte Stollensystem wurde unter dem Goldberg angelegt und war für 4000 Personen ausgelegt, bot aber im Notfall bis zu 7000 Menschen Schutz. Weitere Stollen gab es unter dem Herrenwäldlesberg, im Eichholz und im Schleicher. Wahrscheinlich ist es diesen Stollen zu verdanken, dass die Zahl der Todesopfer im September 1944 nicht höher war.
Erster Angriff am 9. September
Als weitere Schutzräume kamen zahlreiche Deckungsgräben im Stadtinneren hinzu, die allerdings nur Schutz gegen Splitter- und Trümmerteile, nicht aber gegen direkte Bombentreffer boten.
Am 9. August 1944 erfolgte der erste gezielte Angriff der amerikanischen Luftstreitkräfte auf das Sindelfinger Daimler-Benz-Werk. Wegen schlechter Sichtverhältnisse beim Anflug erreichten nicht alle der gestarteten 247 Bomber überhaupt das Zielgebiet. Die dort abgeworfenen Bomben fielen überwiegend auf freies Feld. Im Daimler-Benz-Werk entstand nur geringer Schaden, allerdings wurden drei Mitarbeiter getötet.
Aus amerikanischer Sicht musste dieser Angriff als Misserfolg angesehen werden. Auch beim nachfolgenden Angriff am 14. August wurde das Werk nicht entscheidend getroffen, es waren aber wiederum sechs Tote zu beklagen. Spätestens jetzt musste sowohl der Einwohnerschaft als auch den Verantwortlichen im Werk klar geworden sein, dass die Bombardements bis zur Zerstörung des Werks weitergehen würden.
22 Tote am 10. September
Der nächste Angriff am 10. September 1944 hat unter der Einwohnerschaft Sindelfingens die meisten Opfer gefordert und die schwersten Zerstörungen im Stadtgebiet verursacht. 22 Menschen starben an diesem späten Sonntagvormittag, 120 Wohnhäuser wurden völlig zerstört und 760 zum Teil schwer beschädigt. Die schlimmsten Zerstörungen waren in der Unteren Vorstadt, dem Marktplatz und der Ziegelstraße zu verzeichnen. Schwer getroffen wurde auch das gerade wieder aufgebaute „Westarbeiterlager“ an der Riedmühle, in dem sieben niederländische Zwangsarbeiter starben.
Besonders tragisch wirkte sich ein Bombentreffer auf den Deckungsagraben in der Planie aus. Sechs Menschen kamen allein dort ums Leben, darunter ein eineinhalbjähriges Kind. Ein von der Geschichtswerkstatt am Goldberg initiiertes Denkmal erinnert heute in unmittelbarer Nähe an das schreckliche Geschehen vor 80 Jahren.
Erst beim vierten Luftangriff am 13. September erreichten die amerikanischen Bomber ihr Ziel. Das Daimler-Benz-Werk wurde zu 80 Prozent zerstört, wobei das wichtige Presswerk als eines der wenigen Gebäude das Bombardement weitgehend unbeschadet überstand. Dennoch strichen die Alliierten Sindelfingen nach diesem Tag aus ihrer Zielliste, so dass der Stadt bis Kriegsende weitere gezielte Angriffe erspart blieben. Durch Fehlwürfe und Jagdbomberangriffe gab es aber bis März 1945 weitere Opfer zu beklagen.
Bericht von Zwangsarbeiter
Für uns heute sind die Schrecken dieser Bombenangriffe nicht vorstellbar. Einen Eindruck können vielleicht zwei Zeitzeugenberichte geben. Ein niederländischer Zwangsarbeiter, der in einem Deckungsgraben beim Lager überlebte, berichtet:
„Um 10.40 Uhr kriegten wir Alarm. […] Flugs meinen Koffer gepackt und in den Schutzlaufgraben gebracht. Gegen 11 Uhr überflogen sie uns in Formationen zu 36 Stück. Einer nach dem andern. […] Plötzlich warfen sie zwei Raketenbomben ab und dazwischen andere Bomben. Wir sahen sie fallen und mitten im Dorf einschlagen. Überall schossen die Flammen hoch…[…] Wieder gab es einen Angriff und wieder traf eine große Anzahl von Bomben die Fabrik. Nun folgte eine Bombe nach der anderen. Ein neuer Teppich schlug mitten im alten Teil des Dorfes ein. […]
Nun folgten gut eine Minute lang Bomben auf das Lager. Beim ersten Einschlag hörte ich, dass es ziemlich dicht war. Die folgenden fielen alle mit entsetzlichen Schlägen näher. Einen Teil unseres Gangs hörte ich einstürzen. Über mir verzog sich der ganze Laufgraben. Ich bekam eine ganze Ladung Sand auf den Kopf. Alles war stockdunkel. Ich spürte den Staub in meinem Mund. […] Der Anblick war entsetzlich. Das Lager war durch eine Vielzahl von Bomben umgepflügt und zu Dreiviertel völlig zerstört.“ (zitiert nach Hopmann u.a., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 167)
Sindelfinger erinnert sich
Ein Sindelfinger erinnert sich: „Gleich beim ersten Luftalarm sind meine Frau und unsere zwei Kinder in den Luftschutzstollen am Goldberg gegangen.[…] Als dann die Flugzeuge aufgetaucht sind, bin dann aber auch ich in den Luftschutzkeller gegangen. Wir hatten den Eindruck, dass ein fürchterliches Erdbeben herrscht, der ganze Boden und der ganze Keller wurden durchgeschüttelt. Die Flugzeuge waren genau zu hören, ebenso der Einschlag der vielen Bomben. […] Es hat alles bös ausgesehen, ich bin dann schnell heimgelaufen, um zu sehen, ob bei uns was passiert ist.
Als ich am Marktplatz beim Rathaus angekommen bin, habe ich gerade zugesehen, wie der brennende Giebel unseres Hauses auf die Ziegelstraße gefallen ist. Das, was dort noch übrig war, also fast das einzige, was uns noch geblieben ist, wurde auch noch von irgendwelchen Leuten geplündert. Ein paar Nachbarn, die während des Angriffs zu Hause geblieben sind, haben noch versucht, einige Sachen zu retten…“
Eine detaillierte Dokumentation zum Ablauf der Luftangriffe auf den Raum Böblingen-Sindelfingen hat Karl-Heinz Franz erstellt, der dazu auch umfangreiche Recherchen in amerikanischen Archiven durchgeführt hat. Nach seinem Tod wird sein Nachlass jetzt im Kreisarchiv Böblingen aufbewahrt.
Der Autor Horst Zecha war lange Jahre Stadtarchivar am Sindelfinger Rathaus, danach Leiter des Kulturamts. Inzwischen kümmert er sich sich wieder um die Geshichte der Stadt Sindelfingen.
Info
Das Sindelfinger Stadtmuseum im AltenRathaus in der Langen Straße 13 hat folgende Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag 15 - 18 Uhr, Sonn- und Feiertag 13 - 18 Uhr.