SZ/BZ-Chefredakteur Jürgen Haar geht in den Ruhestand
Sindelfingen. Es war ein Start mit Stolperfallen in den Beruf, von dem er schon als kleiner Junge geträumt hat. Aber Beharrlichkeit und ein großes Netzwerk haben Jürgen Haar die Möglichkeit eröffnet, seit 2003 als Chefredakteur der SZ/BZ seine Vision von Lokaljournalismus zu verwirklichen. Der Jugendliche, der seine Berichte über die A-Jugend-Kicker zunächst im Böblinger Bote, dann aber schnell auch in der Sindelfinger Zeitung veröffentlicht, wird zum stolzen Fahrer eines Mercedes-Benz CLS, der 2004 eine ganz neue Fahrzeugklasse einläutet.
Seit 2006 fährt Jürgen Haar den Daimler. „Ich bin eigentlich eher ein Kopfmensch, aber in das Auto habe ich mich verliebt“, sagt der Chefredakteur, der seit 1985 den Konzern mit seiner Fabrik in Sindelfingen zu einem seiner journalistischen Schwerpunkte zählt. Über 270 000 Kilometer ist Jürgen Haar mit dem schwarzen Mercedes gefahren. Letzte Woche hat er die gut tausend Kilometer nach Goslar und wieder zurück mit einer Tankfüllung geschafft und auf Facebook gepostet: „So ein sparsames, effizientes und zuverlässiges Auto würden die Grünen am liebsten von der Straße holen – unerträglich.“
Am Anfang war der Sport
Vor dem Auto steht aber erst einmal der Sport. Jürgen Haar hat es als Jugendlicher in allen möglichen Bereichen versucht. Handball, Basketball, Fußball oder Schwimmen: „Aber es war eben alles für den Hausgebrauch, Talent für eine Karriere hatte ich hier nicht.“ Aber der Böblinger Schüler hat auf seinem Uher-Tonband mit Handmikrofon eine Fußball-Reportage nachgesprochen. Erst einmal für den Hausgebrauch.
Der Traum vom Sportjournalisten erfüllt sich nicht sofort. Das Volontariat in Böblingen scheitert daran, dass Jürgen Haar kein Abitur hat. In Sindelfingen hat er zwar in Fotograf Friedrich Stampe und später in Chefredakteur Winfried Holtmann Fürsprecher, aber der Vertrag lässt auf sich warten. Nach dem Abgang von der Realschule bewirbt sich der 17-Jährige als Kaufmann, schlägt das Angebot eines Sindelfinger Mittelstandsunternehmen aus, geht auf Geheiß des Vaters zur Allianz nach Stuttgart, die ihm vor Daimler-Benz eine Zusage gegeben hat.
Jürgen Haar fährt also nach Stuttgart, nimmt oft die jüngeren Lehrlinge mit wie Sabine Duffner, heute SPD-Ratsfrau in Sindelfingen, oder Renate Felgner, die mit ihrer Schauspielerkollegin die „Schwätzweiber“ aus der Taufe gehoben hat. Der Versicherungskaufmann pflegt seine Verbindungen, unter anderem im Vorstand des Stadtjugendrings Sindelfingen, und bekommt 1978 schließlich doch seinen Volontärsvertrag in Sindelfingen. Verleger Werner Röhm interessiert das fehlende Abitur nicht: „Endlich haben wir einmal einen Mitarbeiter mit kaufmännischer Ausbildung in der Redaktion.“Das journalistische Handwerk lernt Jürgen Haar von Sybille Schurr und Karlheinz Reichert: „Sie haben mir praktische Tipps gegeben, von denen ich heute noch profitiere.“
Als Karlheinz Reichert die Sindelfinger Zeitung verlässt und zu Sonntag Aktuell geht, übernimmt Jürgen Haar die Sportredaktion. Nicht lange, denn der Zivildienst ruft. Zunächst im Jugendhaus auf dem Böblinger Marktplatz, dann im Stadtjugendring bei Dieter Fußnegger, der aus Sindelfingen kommt und dort Rolf Mailänder als Nachfolger bekommt.
Jürgen Haar kennt sich aus, kennt viele Leute und als Dieter Fußnegger an die Stuttgarter Hochschule wechselt, übernimmt der Zivildienstleistende mit der Mutter von Thomas Dietsche, dem heutigen sportlichen Leiter des VfL Sindelfingen, das Geschäft im Stadtjugendring. Sein Nachfolger in der Sportredaktion der Sindelfinger Zeitung wird derweil Hans-Jörg Zürn, mit dem er 2003 nach dem Tod von Winfried Holtmann die Chefredaktion übernimmt.
Doch bis dahin fährt der Journalist neue Kurven, steigt nach dem Zivildienst im Schmidt-Dreisilker-Sportverlag ein, den Werner Röhm nach Sindelfingen holt. Er zieht in die Viehweide, kümmert sich um die Deutsche Tenniszeitung und ist einer der ersten Journalisten, die bei Jugendmeisterschaften in Hannover ein Interview mit Boris Becker führen, der 1985 einen denkwürdigen Auftritt im Glaspalast feiert.
Jürgen Haar ist damals schon Chef vom Dienst in der Sindelfinger Zeitung und steckt seine Pflöcke ab: Er baut die Berichterstattung über die Sindelfinger Daimler-Fabrik aus, kümmert sich bis heute um die wöchentliche Seite jeden Freitag, die sich um den Konzern dreht. Zunächst schreibt er über die Böblinger Kommunalpolitik, zählt den Oberbürgermeister-Wahlkampf 1986 mit dem Sieg von Alexander Vogelgsang (SPD) über den haushohen Favoriten Eugen Beck (CDU) zu den Glanzlichtern seiner Karriere.
Nach Böblingen ist Sindelfingen an der Reihe. Beim Wahlkampf um die Nachfolge von Dr. Joachim Rücker (SPD) 2001 kommt Jürgen Haar in die Bredouille: Er ist per Du mit dem CDU-Kandidaten Bernd Vöhringer, er ist per Du mit dem FDP-Kandidaten Andreas Knapp, mit dem er bis zu seinem Austritt aus der FDP 1982 zu den vielversprechenden Jungliberalen gehört. Und er ist aus den Böblinger Stadtjugendring-Zeiten auch per Du mit SPD-Kandidatin Andrea Klöber.
„Nähe und Distanz sind im Lokaljournalismus immer eine wichtige Frage“, sagt Jürgen Haar heute: „Es geht darum, mit offenen Karten zu spielen und die jeweilige Rolle klar zu machen, die mit einer persönlichen Beziehung nichts zu tun hat. Das habe ich in den Seminaren zum Beispiel bei Anton Austermann gelernt.“ Natürlich gibt es Konflikte, wenn sich der Journalist bei seinen Hunderten von Kommentaren deutlich positioniert. „Ich hinterlasse keine verbrannte Erde“, sagt Jürgen Haar am Ende seiner Karriere.
Der Netzwerker und Genussmensch, der ausgerechnet mit seiner Serie „Sieben Woche ohne“ über die Fastenzeit einen Journalistenpreis bekommt, ist nicht nur beim Mittagstisch präsent in Sindelfingen: „Der Marktplatz am Samstag ist ein Ritual, ein zentraler Ort, an dem ich Informationen bekomme und erfahre, was die Menschen über die Zeitung sagen.“
Der Bayern-Fan pflegt seine Rolle als Person des öffentlichen Lebens auf Netzwerken wie Facebook, postet Fotos von den Köstlichkeiten aus der Schokoladenmanufaktur von Kevin Kugel, von seinen Ausflügen ins geliebte Südtirol, wo er inzwischen stolzer Besitzer eines Rebstockes ist, erzählt von der Kur auf der Mettnau am Bodensee oder eben von seiner Fahrt mit dem CLS nach Goslar, wo er als Mitglied im Verband deutscher Lokalzeitungen letzte Woche den ehemaligen SPD-Chef und Außenminister Sigmar Gabriel getroffen hat.
Jürgen Haar ist als Moderator von Gesprächen, über Jahre hinweg auf der Literaturtribüne der Buchhandlung Röhm oder im Rotary-Club Stuttgart, aber auch bundesweit aktiv, ist Mitglied der Initiative Tageszeitung und sieht den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2014 für die SZ/BZ mit der Serie „Zerreißprobe“ von Fariba Sattler (Redaktion) und Kai Hechler (Technik) als „Ritterschlag“ für die Zeitung, die er jetzt verlässt.
Neue Aufgabe bei „Nachbarn in Not“
Nicht ganz. „Ich bleibe dem Journalismus in kleinem Rahmen erhalten“, sagt Jürgen Haar, der junge Leute in Start-Up-Unternehmen betreuen will, die sich um Bereiche wie Mode, Medizin und Malerei kümmern: „Davon habe ich bislang wenig Ahnung.“ Und er hat den Vorsitz des einst von Werner Röhm und Winfried Holtmann gegründeten Vereins „Nachbarn in Not“ von Roswitha Seidel übernommen: „Ich bin sehr glücklich über diese Aufgabe und sehe, wie wichtig der Verein heute ist und morgen sein wird. Es ist schön, mit der Kompetenz von Carmen Bühl, Peter Heinkele oder Biggi Haug arbeiten zu dürfen.“