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Kult ab 1979

Giros im alten Rhodos: Sindelfinger Stadtgeschichte im Teigmantel

Am 22. Juni 1979 öffnet Vassilios Vlassakidis das Restaurant mit Imbiss in der Gartenstraße 22 und bringt eine völlig neue Note in die lokale Gastrolandschaft. Zuvor war er beliebter Busfahrer im Stadtverkehr und Wirt im Fässle-Vorgänger Alt-Berlin. Am Montag starb er im Alter von 94 Jahren.
Von Jürgen Wegner

Sindelfingen. Zum Glück hat sich Sotiria durchgesetzt. Ihr Vassilios hatte immer gesagt: „Das Rezept bleibt in der Familie.“ Doch weil „Noula“ einen ganz besonderen Draht zum griechischen Kulturverein pflegte, hatte die Frau im Haus das letzte Wort. So verließ ein gut gehütetes Geheimnis die eigenen vier Wände, und deshalb stellen sich die Sindelfinger jedes Jahr am Freitagabend Mitte Juni auf dem Marktplatz in die Schlange, bevor das internationale Straßenfest überhaupt losgegangen ist. Beim Kulturfest auf dem Rathaus-Vorplatz herrscht dasselbe Bild.

Dieser Giros Pita ist halt ein Gedicht und er schmeckt wie früher. Er schmeckt sogar nach Rhodos und den 80er Jahren in Sindelfingen, auch wenn das Original – so, wie es sich Vassilios Vlassakidis, Spitzname Vasso, ausgedacht hat – eben unerreicht bleibt. Da ist sich die Familie einig, und beißt über Jahrzehnte in ein Stück Sindelfinger Stadtgeschichte, das 1994 zugeklappt wurde, als Vassilios Vlassakidis im Rhodos in der Gartenstraße 22 den Schlüssel umdrehte und den Imbiss samt Restaurant verkaufte. Heute gibt es hier einen Döner.

Am Montag ist der Mann im Alter von 94 Jahren gestorben, der den Giros nach Sindelfingen brachte. Genau genommen hat er ihn in dieser Form sogar für Sindelfingen erfunden, weil sich die erste Idee nicht umsetzen ließ. Ihn auf das Rhodos zu reduzieren, ist dabei viel zu kurz gesprungen. Und um das zu verstehen, muss man im Buch zurückblättern.

Schafe und Tabak

In Mikropolis, dem kleinen Bergdorf an der Grenze zu Bulgarien, schreibt man seinen Namen noch mit einem „s“, das zweite bekommt er später von deutschen Behörden. Vasilios muss früh mit anpacken, hütet Schafe, erntet Tabak. Als ältester von vier Brüdern beendet er nach der Grundschule die Schullaufbahn, nimmt später als Busfahrer seine wunderschöne Sotiria mit, die er heiraten wird und die alle „Noula“ nennen. Regelmäßig steigt er in den Lastwagen und fährt Obst bis nach München, wo es reißenden Absatz findet. Weil Deutschland Arbeiter braucht, sein Cousin beim Daimler als Übersetzer unterkommt, landet auch Vassilios in Sindelfingen. Als ungelernter Heizungsbauer verdient er Lohn und Brot im Mercedes-Werk, jetzt aber schon mit Doppel-s im Namen. „Diese Arbeit ist nichts für mich“, erkennt er bald.

Der Grieche kommt auf anderen Wegen in die Spur, seine Karriere fährt aber noch einen kleinen Umweg. Weil Eugen Pflieger für sein Stadtbusunternehmen gute Fahrer sucht, kutschiert „Vasso“ bald jede Menge Sindelfinger durch Sindelfingen, und besonders gerne Reisegruppen bis nach Österreich. Es ist ein Volltreffer. Die Passagiere verlangen schon beim Buchen: „Wir wollen nur den Vasso.“ Ab und zu springt er auch als Taxifahrer ein, der mobile Dreh- und Angelpunkt ist der Busbahnhof auf dem Marktplatz.

Fässle-Vorgänger Alt-Berlin

Immer wieder passiert er dort das „Alt-Berlin“. Das Gasthaus hat eher nur sporadisch auf. Irgendwann auch gar nicht mehr. Zuhause in Griechenland sagt der Schwiegervater immer: „Du musst dir was Eigenes aufbauen.“ Und das ist der Grund dafür, dass Vasso bald ein neues Zuhause bekommt: Sindelfingen.

Vassilios Vlassakidis wirft ein Auge auf das Alt-Berlin, an eine Konzession ist für ihn als Gastarbeiter aber nicht zu denken. Zumindest so lange nicht, bis Eugen Pflieger beim Treffen der hohen Herren der Stadtgesellschaft Werbung für seinen Angestellten macht, den er gleichzeitig überhaupt nicht als Fahrer verlieren möchte. „Ich war ja sein bester Fahrer“, erzählt Vassilios Vlassakidis hinterher immer wieder gerne.

Eugen Pfliegers Worte wirken Wunder, die Konzession ist durchgedrückt, die Erlaubnisurkunde am 27. Mai 1970 erteilt und das Gasthaus zwei Tage später von Uwe Montanus übernommen. Zur Eröffnung schreibt die Sindelfinger Zeitung: „Das Restaurant und Bierstüble „Alt-Berlin“ freut sich seit der Wiedereröffnung eines regen Zuspruchs. Das gepflegte Lamm-Bräu und die abwechslungsreiche Speisekarte, sowie die aufmerksame Bedienung werden allgemein gelobt.“

Sieben 75-Liter-Fässer

Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass hier ein neuer Gastromagnet steht, der den Sindelfingern bis zuletzt am Herzen liegt. Auch, als Filius Stefanos den Betrieb 1979 übernimmt und in Durchschnittswochen sieben 75-Liter-Fässer Lamm-Bräu ausschenkt, bis das Alt-Berlin 1982 stillgelegt wird. Unter dem neuen Namen „Fässle“ verwöhnt hier später Elke Duprey jahrelang ihre Gäste, die ebenfalls eine Liebe zum Lokal entwickeln.

Dazu sichert sich Vassilios Vlassakidis eine weitere Schank- und Bewirtungsgenehmigung, öffnet am 23. September 1970 am Berliner Platz auf dem Goldberg den Hellas Grill, den sein Bruder Neoklis führt, bis dieser nach Koblenz zieht.
Fast zeitgleich macht Vassilios Vlassakidis den großen Wurf. Am 22. Juni 1979 öffnet er das Rhodos. Zum Glück haut das Vorhaben nicht hin, Spanini an den Mann und an die Frau zu bringen. Die mit Käse und Hackfleisch gefüllten Pita-Teig-Boote sind einfach zu unhandlich für den Gastrobetrieb. Vassilios Vlassakidis tüftelte am Ersatz, faltet Teig und rollt ihn in die eine und die andere Richtung, testet Mehl und ist nicht zufrieden. In der Gültsteiner Mühle verbringt er ungezählte Stunden und arbeitet sich durch sämtliche Mehlsorten, bis endlich eine aus Frankreich nicht durch das Sieb fällt. Sie darf nicht reißen, muss das Ölbad überstehen und den üppigen Inhalt klaglos einpacken.

Flipper und Fressattacken

Nie haben Sindelfinger einen solchen Drehspieß gesehen, nie wurde das Pitabrot mit so viel Hingabe hergestellt. Passanten ersetzen fortan das Mittagessen, Nachtschwärmer legen Grundlagen und bekämpfen Fressattacken begleitet vom endlosen Klang der Spielautomaten oder dem Klackern der Indiana-Jones-und-Addams-Family-Flipper. Hinten in der Gaststätte lassen sich die Gäste die Giros-Platte für zwei Personen bringen oder bestellen für elf D-Mark griechische Giganten-Bohnen.
Vassilios Vlassakidis ist längst angekommen, wird deutscher Staatsbürger und wird Musterbeispiel für eine Stadt, die einen multikulturellen Stempel bekommt mit der Aufschrift: „Sindelfingen isch mei Heimat“. Er wird zweifacher Vater, sechsfacher Ur-Großvater. Rebecca Vlassakidis ist eine der Enkelinnen: „Er war so stolz und wollte immer, dass man seine Geschichte erzählt.“

Auch diese: Weil das Anfang 1980 CDU-geführte Rathaus ihm städtische Parkplätze überließ, wählt er bis zu seiner letzten Wahl die CDU. Oder, dass sein Steuerberater sagte, seine verbrauchte Alufolie mit einer Länge von 12 909 Kilometern würde bis zu den Falkland-Inseln reichen. Vassilios Vlassakidis sagte Feuerland. Die Folie war notwendig, weil Brotpapier und Serviette alleine nicht reichten, um Finger trocken zu halten. Die der 50 bis 60 Daimler-Arbeiter, die donnerstags und freitags einen revolutionären Lieferservice schätzten. Und die der Laufkundschaft, die am Rhodos einfach nicht vorbeikam, bis es Vassilios Vlassakidis 1994 verkaufte. Am Donnerstag findet Vassilios Vlassakidis auf dem Burghaldenfriedhof seinen Frieden.